Schach für alle Generationen
Im Schuljahr 2010-11 fand an den drei Grundschulen im Soldiner Kiez ein aus Mitteln des Programms „Soziale Stadt“ gefördertes Bildungsprojekt statt, welches die Zielsetzung hat, Schach als sinnvolle Lern- und Freizeitbeschäftigung anzubieten. Hier erfahren Sie, wie dieses Projekt konzipiert war, in welchem schulischen und gesellschaftlichen Umfeld es stattfand und welche Erfahrungen nach einem Schuljahr gezogen werden können.
Für das Projekt, welches in dieser Art in Berliner Gebieten mit besonderem Entwicklungsbedarf Vorreiter ist, wurden an den drei Grundschulen jeweils zwei Kurse als Schach-AG angeboten, einmal für die Klassenstufen 1-3 und einmal für die Klassenstufen 4-6. In zwei Grundschulen (GS) war das Angebot freiwillig (Kinder kommen aus dem Hort, Kita oder von zu Hause); in einer gebundenen Ganztagsschule mussten sich die Schüler nach zwei Schnupperterminen für das Halbjahr verbindlich anmelden. Für alle sechs Kurse standen jeweils zehn Plätze zur Verfügung. Als Höhepunkt des Schachprojekts wurde in der vorletzten Schulwoche ein gemeinsames Schachturnier in der Nachbarschaftsetage Osloer Straße veranstaltet.
Vor und zu Beginn des Schuljahres 2010-11 wurde das Schachangebot für Grundschüler auf zwei Schulfesten, den jeweiligen Lehrerkollegien und mit „Touren durch die Klassen“ vorgestellt. Hierdurch wurden Schüler, Lehrer und Eltern erreicht. In einer GS wurde von Lehrern genau die Klassengröße von zehn benannt, in zwei GS ermöglichten – wie bei AGs üblich - einer größeren Zahl von Kindern zwei Schnuppertermine (bis 25 Interessenten) die Teilnahme.
Die Auswahl erfolgte einerseits nach Interessen der Kinder nach zwei Schnupperterminen, andererseits nach Einschätzung der Schachlehrer zur Konzentrationsfähigkeit der Kinder. Die Schach-AGs fanden in Zeitfenstern zwischen 14.00 und 16.45 Uhr statt. Für die Teilnahme an der Schach-AG gab es mehrere Gründe:
In allen Kursen pendelte sich die Klassenstärke nach drei Terminen auf acht bis zehn SchülerInnen ein. In einer Grundschule gab es erfreulicherweise einen hohen Prozentsatz an schachinteressierten Mädchen (Anfängerinnen oder geringe Vorkenntnisse), so dass hier eine reine Mädchenklasse der Klassenstufen 2 – 4 gebildet wurde. In der GS, die die Schach-AG als verpflichtendes Nachmittagsangebot der Ganztagsschule vorsah, bestand nach dem ersten Halbjahr die Möglichkeit auszusteigen bzw. als Neueinsteiger hinzuzukommen. Über die gesamte Dauer des Schuljahres pendelte sich eine Gesamtschülerzahl von 45 Schülern ein.
Es muss betont werden, dass in Berlin für Schach-AGs in GS mit hohem Migrantenanteil kaum Erfahrungen vorliegen (der Migrantenanteil des Projekts im Soldiner Kiez betrug 38 von 45 Kindern, d.h. 85 %). Ungewöhnlich war der hohe Mädchenanteil (21 Schülerinnen von 45 Schülern insgesamt, d.h. 47 %).
Da es sich bei der Mehrzahl der Schüler um Anfänger handelte, ging es in diesem Projektjahr zunächst um die Vermittlung der Spielregeln, die goldenen Regeln der Eröffnung, Basiskenntnisse des Mattsetzens, grundlegende Taktik-Motive, den richtigen Abtausch von Figuren und – neben freiem Spiel – um Partiespiel mit Zeiteinteilung, d.h. mit Schachuhr. Gegen Ende des ersten Halbjahres wurde durch den Einsatz von Schachuhren ein Zeitfaktor beim Training (Aufgabenlösen) und bei Spielen eingebaut. Wie bei allen neuen Schachlernenden sind die ersten ein bis zwei Jahre durch die sogenannte Materialphase gekennzeichnet, d.h. Denken und Spiel ist vor allem auf die Eroberung von Figuren (= Material) aus. Es zählt weniger die Konstellation auf dem Brett als mehr die Anzahl und der Wert der geschlagenen Figuren neben dem Brett (oft sichtbar durch ordentliches Aufreihen und Vergleichen der geschlagenen Steine). Diese Phase muss „durchlebt“ werden, da hier ein Gefühl für Wertigkeit von Entscheidungen auf dem Brett entwickelt wird.
Der Schachlehrer ist in dieser Anfangsphase ständig bemüht, Hinweise zu geben, was das geschlagene Material für Konsequenzen auf dem Brett nach sich zieht. Schrittweise erlangen Kinder Kenntnisse, welche Verantwortung sie mit jedem Zug / Schlagen von Figuren übernehmen. Wird mit Uhr gespielt, potenziert sich dieser Entscheidungsdruck. Anfänglich haben viele Schüler regelrecht „Panik“ mit der Uhr zu spielen. Doch diese Sorge weicht schnell, wenn die Uhr als zusätzliches Element des Spiels / des Wettkampfes den Erlebniswert des Spiels steigert. Eine Doppelstunde mit 90 Minuten besteht idealtypisch zu 40 % aus Lern- und Übungsteil (am Demonstrationsbrett und/oder Aufgabenblätter) und 60 % Spielanteil (Verstetigung von eben Erlerntem; freies Spiel durch fairen Wettstreit untereinander, Simultanspiel gegen den Lehrer, Turnier untereinander mit dem „Reizfaktor“ in der Tabelle besser zu sein).
Ex-Jugendweltmeisterin Elisabeth Pähtz hat eine knifflige Aufgabe gestellt.
Foto: Harald Fietz
In der Bilanz lassen sich neben dem Erwerb von Schachwissen folgende Lerneffekte und Auswirkungen der Schach-AGs zusammenfassen:
Findet die Schach-AG unmittelbar nach Schulschluss statt (ab 14 Uhr oder nach längerer Hof-Pause ab 14.30 Uhr), so ist die Motivation für den Lern- und Übungsteil geringer als bei späterem Beginn (15.15 Uhr). In diesen Klassen herrscht vorrangig der Wunsch, spielen zu dürfen (Abschalten von der Hektik der Hof-Pause oder der Mittagspause mit Essen und Pause). Späterer Beginn und eine echte Ruhephase nach Unterrichtsschluss führte dazu, dass Kinder sogar freiwillig mehr Übungsaufgaben wünschten!
Aufgabenlösen stärkt i.d.R. die Fähigkeit, ausdauernd nach Lösungswegen zu suchen. Ein Nebeneffekt ist die Vermittlung einer „Freude am Denken“. Kinder lernen zudem, sofort die Konsequenzen einer Aktion zu erfahren, d.h. ein schwacher Zug führt zu einer schlechten Stellung bzw. einer falschen Lösung.
In diesem ersten Jahr klappte das Lösen von konkreten vorgegebenen Aufgaben (z.B. „Matt in einem Zug“ oder „Finde einen Doppelangriff“) gut; Schwierigkeiten hatten die Kinder bei Aufgabenblättern, die keine konkrete Aufgabenvorgabe hatten, sondern ein Mix aus zuvor gelernten Aufgaben waren. D.h. das Trainieren von Mustern klappte gut, das Wiedererkennen und sinnvolles Verknüpfen von Motiven ist noch weniger entwickelt. Dies ist allerdings nach einem Jahr nicht anders zu erwarten, so dass einige typische Merkmale vorherrschen (Spiel mit zu wenigen Figuren u.a. viele Bauernzüge, viele Schachgebote, Fixierung auf Material, schnelles Spiel, überwiegend nur Erkennen der eigenen Möglichkeiten).
Mithin konnte in diesem Schuljahr ein Grundstock an Schachmotiven erarbeitet werden (quasi „das Alphabet des Schachs“), der im zweiten Jahr erweitert werden muss, um dann in die räumliche und zeitliche Phase einzutreten. Hier erkennen Kinder wie Figuren besser miteinander agieren und das gesamte Brett genutzt wird bzw. wie der Faktor Zeit, d.h. Initiative, eine Rolle spielt.
Die Schach-AGs fanden sowohl mit Kinder aus Klassen mit Jahrgangsübergreifenden Lernen bis Klasse sechs wie auch Schule mit Klassenstufen ab Klasse 3 statt. Befinden sich in der Schach-Klasse JÜL-erfahrene Kinder, so herrscht deutlich eher eine ausgeprägte Neigung, Mitschülern Sachverhalte zu erklären, bei Wiederholungen „zu glänzen“ bzw. gemeinsam Lösungswege anzustreben.
Außerdem ist zu vermerken, dass Kinder auch während anderer Wochennachmittage vermehrt im Hort oder daheim Schach spielen bzw. in einigen Fällen weitere Schachschüler durch Mitschüler rekrutiert wurden. Allein die Einrichtung einer Schach-AG bringt dieses Denkspiel bei Grundschülern insgesamt „ins Bewusstsein“, und selbst wenn sie aus Gründen der zeitlichen Auslastung mit anderen AGs nicht am Schachunterricht teilnehmen konnten, so stimulierte die pure Aufmerksamkeit für das Spiel zum Spiel im Freundes- oder Familienkreis.
Mit einer Schach-AG, der Mädchen-Gruppe, wurde im Januar 2011 am Berliner Schulschach-Schnellschachmannschaftsturnier teilgenommen, weil diese als Sozialgruppe große Lernbereitschaft entwickelte. Obwohl ein Start nach nur vier Monaten AG eigentlich früh ist und dort in der Mädchen-Klasse auch gegen 9-Klässler von Gymnasien gespielt wurde, stärkte dieser Wettbewerb mit Spiel gegen Ältere das Selbstbewusstsein der Gruppe. Zudem wurde in der gemeinsamen Auswertung die Verantwortung der eigenen Partie für die Gesamtmannschaft erkennbar.
Wie im Projekt anvisiert wurden auch drei Ferienkurse (5 Tage a 3,5 Stunden) durchgeführt, bei denen Anfangskenntnisse und erste Matt- und Taktik-Motive vermittelt wurden. Ein besonders erfreuliches Ergebnis war hierbei, dass die 7- bis 11-Jährigen sich über eine relativ lange Zeitdauer intensiv mit dem Spiel und Denkübungen beschäftigen konnten und kein Aufkommen von Unlust bzw. Überforderung erkennbar wurde. Wir glauben, dass hierbei der Lernort in der Schachschule in der Wriezener Str. 35 förderlich war. Einerseits war es natürlich der einzige Unterricht am Tag (und dazu noch freiwillig), andererseits wirkt eine Umgebung mit Schachbildern an den Wänden, einer Pinnwand mit den nächsten Turnierpaarungen des internen Turniers und einer Hausordnung, die keine Ablenkung gestattet (Playstation/Mobiltelefon), stimulierender. Schachunterricht an Schulen bedeutet eben auch Schach an einem Ort, der u.U. mit weniger beliebten Lerninhalten assoziiert wird.
Zwei grundsätzliche, das Training hemmende Einstellungen einiger Jungs sollen ebenso angeführt werden: einerseits bei einigen Schülern eine ablehnende Haltung gegen Mädchen spielen zu wollen (was jedoch notwendig war, da bei einem internen Turnier jeder gegen jeden spielt), andererseits ein typisches „Prinzenverhalten“ nach dem Motto, ich kann schon spielen bzw. ich weiß die Lösung schon. Solches Gehabe erwies sich stets als unzutreffend, so dass einige Schüler die Lust am Spiel verloren (d.h. nicht die Geduld aufbrachten, sich intensiv auf die Lösungssuche zu konzentrieren) und entweder dem freiwilligen AG-Angebot fern blieben bzw. nach dem ersten Halbjahr in eine andere AG wechseln konnten. Allerdings ergaben sich hierdurch Nachrücker-Optionen, und andere Schachschüler wurden durch ihre Schulkameraden zur Teilnahme motiviert.
Mädchen und Jungen gleichermaßen konzentiert beim einwöchigen Ferienkurs.
Foto: Michael Kuchinke Hofer
Der hohe Anteil von Mädchen ist generell ermutigend. Zudem erfolgte deren Teilnahme freiwillig und in einigen Fällen wurden wegen des Wunsches der Teilnahme an den Schachstunden weitere Aktivitäten auf alternative Termine verlegt und zudem wurde Schach in einen ohnehin gut gefüllten Wochenkalender aufgenommen (Koran-Unterricht, Sprachunterricht, Tanzunterricht). Durch die absehbare Weiterführung der Mädchen-AG über das Projektende hinaus kann hier eine Basis für eine weibliche Schachgeneration im Kiez gelegt werden.
Die Schüler haben sich mit ihrer Teilnahme an den Schach-AGs und den Ferienkursen als Multiplikatoren erwiesen. Schach bekommt im Kreise der Großfamilie und der jeweiligen ethnischen Community Aufmerksamkeit. Hieran kann angeknüpft werden, um Schach als sinnvolle Freizeitbeschäftigung rund um die Schachschule SCHACH KULTUR BERLIN im Kiez und angrenzenden Stadtteilen noch stärker zu etablieren.
Aus den Schachgruppen und insbesondere dem Spezialkurs wurdem einige Schachtalente „entdeckt“, die ohne dieses Projekt nicht mit dem Spiel in Berührung gekommen wären. Dieses Empowerment kann bei entsprechender Weiterförderung mit Training und Turnierpraxis Erfolge auf Berliner Jugend-Ebene zeitigen und diese Jugendlichen zu Aushängeschildern des Kiezes machen.
Die Existenz eines solchen Schulschach-Projektes und der zeitgleiche Aufbau einer Schachschule im Kiez wirken als Bildungsangebot über den Kiez hinaus. Insbesondere aus angrenzenden Stadtteilen (Pankow jenseits des S-Bahnhofs Wollank-Straße, Prenzlauer Berg jenseits der Böse-Brücke, südliches Reinickendorf) kann wegen der verkehrstechnisch günstigen Anbindung über die Osloer Str. bzw. die Prinzenallee eine Kunden-Akquiese betrieben werden. Der Soldiner Kiez kann mehr als ein links liegen gelassenes Durchfahrgebiet sein, sondern Standort der Wissensproduktion und hochwertiger Freizeitgestaltung.
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